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Diskriminierung

Nein zur Gewalt an Frauen mit Behinderungen!

Wie hilft die Istanbul-Konvention?

Fachtag am 10. Mai 2023 in der Zitadelle Spandau, organisiert von der Konferenz der Berliner Beauftragten für Menschen mit Behinderungen, der Landesarbeitsgemeinschaft der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten der Berliner Bezirke und dem Netzwerk behinderter Frauen Berlin e.V. mit Unterstützung durch das Bezirksamt Spandau. So gab es zu Beginn ein Grußwort von Frank Bewig, Bezirksbürgermeister Spandau (CDU); per Video war auch Lisa Paus, Bundesfamilien- und -frauenministerin zugeschaltet, die dazu aufrief, das Schweigen über ein Tabu-Thema zu brechen und eine ressortübergreifende Anti-Gewaltstrategie der Bundesregierung ankündigte. Gelungener Auftakt war das Grußwort von Jürgen Dusel, Bundesbeauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderungen: 13,5 Millionen Menschen – das ist jede sechste Person – in Deutschland leben mit einer Behinderung. Deswegen braucht Demokratie Inklusion. Der Schutz vor Gewalt ist eine zentrale staatliche Aufgabe. Frauen mit Behinderungen sind mehr als jede andere Gruppe von Gewalt betroffen. Die rechtlichen Normen der UN-Behindertenrechtskonvention und der Istanbul-Konvention müssen endlich konsequent umgesetzt werden. Dazu benannte Dusel vorab zwei konkrete Punkte, die sich durch den ganzen Tag zogen: Die Entwicklung von Gewaltschutz-Konzepten in den Einrichtungen, und die Öffnung der Einrichtungen in die Sozialräume hinein.

Ableismus und Sexismus

Rebecca Maskos, Uni Bremen, beschrieb Ableismus und Sexismus als Ausgangspunkte von Diskriminierung von Frauen mit Behinderungen: Differenzen wie Klasse, Gender, Alter oder eben Behinderung werden zum Ausgangspunkt möglicher Diskriminierung, besonders wenn sie sich überlagern („Intersektionalität“); Ableismus setzt dann die Norm der Nicht-Behinderung gewaltsam durch, sowohl gesellschaftlich strukturell als auch im individuellen Verhalten. Menschen mit Behinderungen – auch Frau Maskos selbst – begegnen immer wieder der Annahme, sie seien inkompetent, zu einem selbstbestimmten Leben nicht in der Lage und leidend an ihrer Behinderung. Entsprechend werden Fremdbestimmung und übergriffiges Verhalten alltäglich erlebt – all das erleichtert sexualisierte Gewalt. 

  • Ableismus (vom englischen „to be able“) bedeutet die Reduzierung eines Menschen auf eine Behinderung als etwas, was diese Person von der vermeintlichen Normalität unterscheidet. Wer von einer Lernbehinderung oder einem Rollstuhl ohne Nachfrage oder genauere Kenntnis darauf schließt, was die betreffende Person kann oder nicht kann, oder wie sie sich fühlt, der handelt ableistisch. Diese diskriminierende Einstellung kann auch positiv daherkommen – wenn etwa ein Mensch mit Behinderung immer wieder dafür gelobt wird, seinen Alltag meistern zu können. Der sperrige Begriff ist bisher wenig verbreitet, aber er hilft zu begreifen, wie Alltagsdiskriminierung von Menschen mit Behinderung funktioniert. Organisationen wie z.B. Aktion Mensch plädieren dafür, ihn in unsere Alltagssprache aufzunehmen.

Aktueller Stand

Monika Schröttle referierte die Forschungsergebnisse zur Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen in Einrichtungen: Das Risiko, von Gewalt betroffen zu sein, ist für die diese Frauen um das Doppelte oder Vierfache erhöht – und damit so groß wie bei keiner anderen Gruppe. Besonders betroffen sind gehörlose Frauen und Frauen mit kognitiven Einschränkungen. Gewaltschutz-Konzepte sind nutzlos, wenn die personelle Ausstattung der Einrichtungen eine Umsetzung verunmöglicht (Recht auf geschlechtergerechte Pflege und Wahl der pflegenden Person); die betroffenen Frauen brauchen Zugang zu den Beratungs- und Unterstützungsangeboten außerhalb der Einrichtungen, und zu den Strafverfolgungsbehörden. Der Frauenbeauftragten brauchen mehr Rechte.

Britta Schlegel vom Deutschen Institut für Menschenrechte referierte den Stand der rechtlichen Umsetzung von UN-Behindertenrechts-Konvention und Istanbul-Konvention, und kam dabei zu ähnlichen Ergebnissen wie Monika Schröttle. Interessante Workshops – u.a. zu ersten Erfahrungen mit einem barrierefreien Frauenhaus – schlossen den Fachtag ab.

  • Gewalt gegen Frauen ist auch das Thema unserer Mitgliederversammlung am 25. Mai; unsere Referentin Pia Witthöft war beim Fachtag ebenfalls aktiv mit dabei.
  • Für den Landesparteitag im Herbst sollen Anträge zu diesem Themenbereich erarbeitet werden.  Als mögliche Themen zeichnen sich ab: Fehlender Zugang zu Strafverfolgungsbehörden und Rechtsanwälten; fehlende Möglichkeiten für eine kurzfristige Krisenunterbringung (mit)betroffener Kinder und Jugendlicher.

Ressortübergreifende Anti-Gewalt-Strategie

Im Koalitionsvertrag hat die Ampel-Koalition die Entwicklung einer ressortübergreifenden politischen Strategie gegen Gewalt an Frauen vereinbart. Eine Presseerklärung des Deutschen Instituts für Menschenrechte vom November 2021 begrüßt die Absichtserklärungen des Koalitionsvertrags https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/aktuelles/detail/neue-bundesregierung-soll-umfassende-strategie-zur-umsetzung-der-istanbul-konvention-auf-den-weg-bringen .
Die Zahlen der Polizeistatistik (von 2020) zeigen 146.655 Fälle von Gewalt in bestehenden oder ehemaligen Partnerschaften; dabei sind Frauen mit einem Anteil von 80,5 Prozent weitaus häufiger betroffen als Männer. Das Dunkelfeld dürfte noch erheblich größer sein. Die ressortübergreifende Strategie gegen Gewalt an Frauen ist daher überfällig. Es muss sich „um eine inhaltliche und strukturelle Gesamtstrategie handeln – von der Prävention bis zur Strafverfolgung. Sie sollte sich an dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) ausrichten, zu deren Umsetzung Deutschland seit 2018 verpflichtet ist.“ [Zitat Presseerklärung Deutsches Institut]

Eckpunkte des Vorhabens sind:

  • Ein Hilfesystem, des allen Frauen gut zugänglich ist – auch Frauen mit Behinderungen und ohne deutsche Sprachkenntnisse, in unterschiedlichen Lebenslagen;
  • Medizinische, rechtsmedizinische und psychosoziale Akutversorgung muss nach sexualisierter Gewalt für alle Betroffenen gewährleistet sein;
  • Auch bewusstseinsbildende Maßnahmen für potenzielle Täter und Täterinnen sowie gendersensible Jugendarbeit gehören dazu.

18.05.2023 Thomas Koch

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